Meine Eltern

Meine Eltern wuchsen im Berner Oberland auf. Mutter kam 1937 zur Welt, wie man sagte in einer alten Scheune. Ihre Mutter war bei der Geburt nicht viel älter als sechzehn. Sie stammte aus einer grossen und bescheiden lebenden Bauernfamilie. Mutters Vater dagegen war aus einer anderen sozialen Schicht. Später bekam meine Mutter noch eine Schwester. Warum sie nicht zusammen aufwuchsen, darüber liegt der Mantel des Schweigens. Ihre Grosseltern sind – so gut wie es ging – in die Bresche gesprungen und haben Mutter eine unbeschwerte Jugend ermöglicht. Mutter erwähnte öfters, dass sie ihr späteres Leben nur ausgehalten habe, weil sie in Meiringen eine schöne Kindheit erleben durfte.

Mein Vater wuchs auf einer Alp oberhalb von Meiringen auf, zusammen mit seiner Mutter, dem Stiefvater und noch zwei Geschwistern. Als Sohn eines Bergbauern und Bahnangestellten erlebte er eine raue Jugend. Dies nicht nur wegen des materiellen Mangels. Eine der „Lieblingsgeschichten“ war, dass er noch mit siebzehn Jahren von seiner Mutter geschlagen wurde, weil er mit seinem ersten selbst verdienten Geld Bergschuhe kaufte. Auch sein Stiefvater bestrafte ihn oft mit Schlägen. Als kleiner Junge war ich nicht gerne bei Vaters Eltern. Vater war Mutters Jugendliebe, und obschon sein Ruf nicht der beste war, heirateten sie im Frühling 1958. Dass ich schon geboren war, spielte sicher eine Rolle.

Ich war im November 1957 im Berner Kantonsspital zur Welt gekommen. Die ersten Wochen meines Lebens verbrachte ich mit Mutter in Meiringen, bis wir mit Vater zusammen nach Luzern zogen. Nach der Heirat zogen wir Anfang Mai desselben Jahres nach Zollikon, in den Kanton Zürich. Dort wurde im März 1959 mein Bruder Heinz geboren. Im Mai 1960 zogen wir weiter ins Emmental, der Ort hiess Wannenfluh. Hier kam noch im selben Monat mein jüngster Bruder, Ruedi, zur Welt.

Frühe Erinnerungen

Was so an Erinnerungen haften bleibt, hat etwas Rätselhaftes. Ich erinnere mich, wie ich als kleiner Junge mit einem Bernhardiner vor dem Haus spielte, obwohl ich damals kaum drei Jahre alt war. Aus dieser Zeit muss wohl meine Vorliebe für Hunde kommen. Gerne denke ich an diesen Ort zurück, aber warum eigentlich? Vielleicht, weil damals mein Urgrossvater noch bei uns wohnte? Ich weiss nicht viel über ihn, doch bei ihm fühlte ich mich wohl, und wir hatten auch Spass zusammen. Sein Mittags-schlaf zum Beispiel war ihm heilig, und so schloss er seine Schlafzimmertür vor uns Kindern ab. Ich schaffte es aber trotzdem, ihn zu stören, indem ich durch den alten Kachelofen kroch, der das Wohnzimmer mit seinem Zimmer verband. Meine Gedanken an diesen Ort wecken in mir noch heute Heimatgefühle. Vielleicht, weil er mich an die wenigen unbeschwerten Augenblicke meiner Kindheit erinnert?

Von den Sorgen, die schon damals unser Familienleben belasteten, merkten wir Kinder natürlich noch lange nichts. Mein Urgrossvater dagegen umso mehr. Jedenfalls war er eines Tages nicht mehr gewillt, die Launen meines Vaters weiter mitzutragen. Er ging zurück nach Meiringen, wo er bald darauf starb.

Dieses kleine Bauernhaus in Wannenfluh hätte ein Zuhause für uns werden können, doch wir blieben nicht. 1961 waren wir für drei Monate im Kanton Aargau registriert und von Oktober bis Ende März 1962 in Interlaken (Berner Oberland) angemeldet. Daran habe ich nicht die geringsten Erinnerungen. Logisch, dass sich bei mir nie so etwas wie Heimatgefühle entwickeln konnten. Ein Lebensgefühl wie „Hier bin ich zu Hause“ ist mir bis heute eher fremd. Viele Jahre später meinte einmal ein Psychologe und Berufs-Berater, dass jedes Mal, wenn etwas in mir zu wachsen anfinge, ein Rasenmäher käme und darüberfahren würde. Damals dachte ich noch, dies sei wohl etwas übertrieben. Doch wie ein Rückblick auf meine ersten Lebensjahre zeigt, ist dies wohl nur allzu wahr.

Nach kurzen Zwischenstopps in den Kantonen Basel (keine Ahnung, wo) und Bern (Brienz/Oberried) strandeten wir im Juni 1963 in Zeglingen (Baselland). Wieder wohnten wir auf einem kleinen Bauernhof. Als ich kürzlich diesen Hof besuchte, staunte ich nicht schlecht, wie vieles noch mit meinen Erinnerungen übereinstimmte. Nun war ich knapp fünf Jahre alt. Für uns Kinder war die neue Umgebung ein grosser Spielplatz. Etwas abseits vom Dorf boten Wald, Wiesen und der Stall genug Möglichkeiten, um sich richtig austoben zu können.

Das wichtigste Tier war unsere einzige Kuh, wegen der Milch. Wir Kinder bekamen am Abend im Stall unsere Ration davon ab. Jeder hatte seinen eigenen farbigen Plastikbecher. Zur Melkzeit durften wir im Stall antraben und so viel Milch trinken, wie wir wollten. Doch nachher war Schluss, damit die Bettlaken über Nacht möglichst trocken blieben. Wir hatten auch etwa acht Rinder, dazu weitere Tiere, was halt so auf einem Bauernhof üblich ist. Doch dies alles bedeutete auch eine Menge Arbeit für meine Mutter, Vater arbeitete ja meistens auswärts. Wir mussten auch mithelfen, so gut, wie es eben ging. Die Zeit, in der ich mit einem grossen Rechen hinter dem Heuwagen herlaufen musste, ist mir zumindest im Gedächtnis hängen geblieben.

Unsere Tiere zu hüten, gehörte aber zu meinen festen Verpflichtungen. Da war vor allem dieser Geissbock. Ich weiss bis heute nicht, warum wir dieses Tier hatten. Dieser Bock schaffte es immer wieder abzuhauen, auch wenn er dazu das Seil, an dem er angebunden war, durchbeissen musste. Für mich bedeutete dies Ärger, nicht nur, weil man ihn suchen musste. Es waren aber zwei ganz andere Vorkommnisse, die mich nachhaltig beeinflussten.

Erste Schockerlebnisse

Zum Ersten hatte ich eines Abends die Milch auf dem Weg zur Molkerei ausgeschüttet, weil ich mit dem Milchkessel herumalberte. Als das Vater mitbekam, gab er mir ein Messer in die Hand und sagte, ich solle in den Wald gehen und einen Zweig abschneiden. Er war ruhig, und es dauerte etwas, bis ich realisierte, dass ich nun mit dieser Rute geschlagen werden sollte. Schläge waren für uns nichts Aussergewöhnliches, doch hier war es anders. An die eigentlichen Schläge erinnere ich mich nicht mehr, dafür umso mehr an die Art, wie es dazu kam.

Das zweite Erlebnis passierte an einem Chlaus-Tag. Wir waren ohne Vater beim Nachtessen, als plötzlich und unerwartet der Chlaus zur Tür hereinpolterte. Er benahm sich von Anfang an grimmig. Zumindest kam mir dies so vor. Im Laufe des Abends liess der Chlaus verlauten, dass ich in den Sack kommen werde. Da ich das nicht als Spass verstand, rannte ich weinend in die Wohnstube und verkroch mich voller Angst unter dem Wohnzimmertisch. Ich ahnte irgendwie, dass dies Vater war, aber ich war mir nicht sicher. Der Hof hiess übrigens „Lostel“, und hier sollte ich auch in den Kindergarten gehen. Doch ich weiss noch, wie mein Bruder Heinz und ich schreiend in einem Raum voller Spielsachen standen. Mutter sprach mit einer Frau, vermutlich der Kindergartenlehrerin, und irgendwann waren wir wieder zu Hause. So kam es, dass meine Kindergartenzeit nicht viel mehr als eine Stunde dauerte. Jedenfalls musste ich nicht mehr hin, viel-leicht auch, weil wir nach knapp neun Monaten Bauern lebens sowieso wieder weiterzogen.

Immer wieder

Ich weiss nicht mehr, wohin es ging, und ob sich diese Lücke jemals schliessen wird, bleibt offen. Erst an Effretikon im Kanton Zürich kann ich mich wieder erinnern. Ich weiss noch, wo wir ungefähr wohnten. Ich erinnere mich auch an eine Lehrerin, die mir aus irgendeinem Grund ihren Bambusstab auf die Hand schlagen wollte. Als ich vor Angst die Hand wegzog, war mein Ruf in dieser Schule dahin. Dieser wurde durch meinen ersten Diebstahl noch schlechter. Zusammen mit einem Schulkollegen, ich glaube, es war sogar seine Idee, klaute ich einen „Fülli“. Wir wurden erwischt. Dadurch verlor ich meinen Freund, denn er bekam Hausarrest, und der Umgang mit mir wurde ihm verboten. Ich dagegen ging nicht nach Hause und zog aus Angst vor meinem Vater in unserem Keller ein. Mitten in der Nacht fand mich meine Mutter. Weil sie auch keinen Ärger wollte, erfuhr mein Vater, zu meinem Glück, nichts von dieser Angelegenheit. Es war auch hier, wo ich den Einfall hatte, Vaters Militärbüchlein als meine persönliche Agenda zu benutzen. Leider schätzte er meine Idee nicht. Auch nicht, als ich – dank meiner Mutter – mit Handorgelspielen anfing. Als Vater wieder mal zu Hause war, verbot er mir umgehend, den Unterricht weiter zu besuchen.

Doch gehen wir weiter, denn dieser Aufenthalt dauerte auch nur knappe acht Monate. Im Juli 1966 kamen wir in Mörschwil im Kanton St. Gallen an und blieben wiederum nur bis zum Oktober desselben Jahres. Damals nutzte ich jede freie Minute, um Fussball spielen zu können. Einmal, als ich in einen Ball grätschte, kam mir der Misthaufen einer Kuh in die Quere. Ich war von oben bis unten voller Kuhmist. Vater sah dies und spritze mich kurzerhand mit dem Gartenschlauch ab. Für alle war dies eine lustige Situation, und wir lachten. Auch solche Momente gab es. Die Ironie an der Geschichte ist aber, dass sich solche Momente, die einen Schein des Glücks widerspiegelten, innerhalb von Sekunden ändern konnten. Das sah dann etwa so aus: Als wieder einmal so eine aufgeheiterte Stimmung war, sagte ich zu meiner Mutter aus Jux „Mamuschka“. Keine Ahnung, wie ich darauf kam, aber dafür kassierte ich wohl die härteste Ohrfeige, die ich je bekommen habe. Ich verstand die Welt nicht mehr; ich hatte doch nichts Unrechtes oder Böses getan!

Schule, ein Alptraum und...

In diesem Vorort von St. Gallen wurde auch die Schule zum Alptraum. Ich fühlte mich von Anfang an als Fremdkörper und hatte keine Ahnung von dem, was da gerade erzählt wurde. Die Schläge meines damaligen Lehrers auf meinen Kopf (Kopfnüsse) haben bis in die Gegenwart einen schmerz-haften Nachgeschmack. Wenn man etwas nicht wusste oder zu spät kam, folgte diese Art der Bestrafung. Als Folge davon ging ich oft gar nicht erst zur Schule. Ich spazierte durch das kleine Dorf, und wenn die Schule zu Ende war, ging ich nach Hause, als wäre nichts gewesen. Die vielen Absenzen, die natürlich in dem Schulzeugnis standen, wurden eigenartigerweise zu Hause nie gross erwähnt. Mir war das nur recht, es war allemal besser, als wieder Prügel zu bekommen.

An meinem neunten Geburtstag zogen wir weiter nach Rickenbach, Kanton St.Gallen. Wir blieben nur fünf Monate. Ich kann mich weder an die Schule noch an unser Zuhause erinnern. Erst die Zeit vom April 1968 bis anfangs 1969 in Neschwil (Zürich) wecken in mir wieder Erinnerungen an Erlebnisse. In diesem kleinen Dorf bewohnten wir ein schönes Haus. Im Parterre hatte Mutter einen kleinen Einkaufsladen, den sie betreute. Hinter dem Haus wohnten unsere Kaninchen, zu denen ich schauen musste. Von hier stammt wohl meine Vorstellung von unserem Sonntagsessen: Kartoffelstock und Kaninchenfleisch. Vater war ein leidenschaftlicher Jäger, und so kam es vor, dass er auch zu Hause Tiere schlachtete. Wenn wieder mal ein Kaninchen dran glauben musste, gehörte es zu meinen Aufgaben, dieses zu halten. Jedes Mal, wenn so ein zappelndes Tier in meinen Händen ausblutete, nachdem mein Vater es erschossen hatte, war mir mulmig zumute. Einmal hat sich Vater vorgenommen, ein Schwein zu schlachten. Das Schwein riss aus, doch auf einer nahe gelegenen Wiese kam trotzdem sein Ende, und ich musste mit Pfannen voller Blut hin- und herspringen, was mich sehr anekelte.

Wie üblich war Vater nicht oft bei uns und wir Jungs waren nun so richtig im Saft. Das war für unsere Mutter alles andere als einfach. Immer mehr kam sie mit uns völlig an ihre Grenzen. Wenn Vater da war, mussten wir fast militärisch gehorchen, und wenn nicht, nutzten wir dies aus. Das wurde mir zum ersten Mal bewusst, als Mutter so sehr ausrastete und mir beim Mittagessen das Besteck an den Kopf warf. Ich musste sie irgendwie provoziert haben. Ich realisierte ihre Frustration noch, während ich die Treppe hinunterfiel und sie weiter wie wild auf mich einschlug. Ich wusste aber nicht, wie ich damit umgehen sollte, und floh, sobald ich wieder auf den Beinen stand. Später wurde darüber nicht mehr gesprochen. Irgendwie wurde mein Leben immer beschwerlicher. Jedenfalls glaube ich mich daran erinnern zu können, dass ich schon früh anfing, das Leben als nicht lebenswert anzuschauen. Ich empfand vieles als ungerecht, und meine Hilflosigkeit all den Ungerechtigkeiten gegenüber frustrierte mich.

Der Verantwortung nicht gewachsen

Es war im Sinne meines Vaters, dass ich als Ältester lernen sollte, immer mehr Verantwortung zu übernehmen. Das bedeutete, dass, wenn unsere Eltern weg waren oder anderweitig beschäftigt, ich zum Rechten schauen musste. In dieser Zeit erzog uns Vater sowieso mehr durch Augen-kontakte. Ein Blick, und ich wusste sofort, was er von mir verlangte. Wenn zum Beispiel die Küche gemacht werden musste, war ich zuständig. Sicher sollten meine Brüder auch mithelfen, doch es war nur logisch, dass sie mir nicht gehorchten. Sobald ich mit ihnen allein war, gab es schnell mal Krach zwischen uns.

Eines Tages machte mich mein Bruder Heinz so wütend, dass ich die Kontrolle völlig verlor und ich ihn so kräftig, wie ich nur konnte, über das Bett warf. Dabei schlug er gewaltig seinen Kopf an. Ruedi und ich standen mäuschenstill daneben, vermutlich starr vor Schreck. Es dauerte seine Zeit, aber plötzlich kam Heinz wieder zu sich, und er drohte, dass er es Vater erzählen würde. Rückblickend war dies eine jener Situationen, in denen wir vor schlimmeren Folgen verschont wurden, und davon gab es einige.

Die weiteren Erinnerungen an dieses kaum fünfzig Seelen zählende Dorf haben mit meinen Streichen zu tun, und zum Glück sind die meistens glimpflich ausgegangen. Wenn ich für meine Tiere Gras mähte, durfte ich nur die kleine Sense nehmen, die grosse war für mich tabu. Doch ich wollte es so machen, wie ich es bei den Bauern gesehen hatte, und nahm eines Tages verbotenerweise die grosse zum Grasen mit. Es ging alles gut, bis Heinz vorbeikam und mir vor die Füsse sprang. Es war noch schwierig, unseren Eltern klarzumachen, dass die Fleischwunde an Heinz’ Bein von der kleinen Sense stammte! Durch diese Lüge hatte mein Bruder natürlich etwas gegen mich in der Hand. Am häufigsten Krach hatten wir, wenn wir alle drei zusammen waren. Einmal schubsten meine Brüder mich in die Badewanne. Das hatte für mich weitreichende Folgen. Von dem Moment an hatte ich nämlich eine Zahnlücke, was mein Selbstbewusstsein auf Jahre empfindlich schwächte. Ich konnte mich mit meiner Zahnlücke überhaupt nicht an-nehmen, doch darüber wurde bei uns nicht gesprochen.

Noch etwas anderes fiel mir hier zum ersten Mal auf. Ich interessierte mich auf einmal für das andere Geschlecht. Plötzlich hatte ich sexuelle Gedanken, die ich nicht einordnen konnte. Ich schämte mich dafür und wusste nicht, ob das normal war oder nicht. Zum Glück gab es andere Dinge, wie das Fussballspielen, damit konnte ich viele quälende und nicht weichen wollende Gedanken verdrängen.

Natürlich ging ich auch zur Schule. Täglich holte uns der Schulbus ab, und wir fuhren in das Nachbardorf Mädiswil.Ich mochte meine damalige Lehrerin, sie war anständig und korrekt zu mir. Doch ausgerechnet gegen sie erhob ich wegen einer Bagatelle meine Hand. Ich hätte sie beinahe geschlagen. Ich weiss noch, dass ich damals dachte: Jetzt habe ich es auch mit ihr verspielt.

Gar nicht zum Lachen zumute

Ich muss hier einen kleinen Einschub über meine Einschulung machen, weil diese für mein späteres Verhalten in der Schule und vor allem Autoritätspersonen gegenüber wegweisend war. Bis zum jetzigen Zeitpunkt habe ich nicht herausgefunden, wo ich die ersten Schulstunden verbrachte. Anfragen an die entsprechenden Gemeinden haben bis jetzt keinen Erfolg gebracht. Somit kann ich nicht genau sagen, wo folgendes Ereignis geschah. Wir hatten damals diese kleinen schwarzen Tafeln, die wir mit Kreide beschrieben. Eines Tages mussten wir die ganze Tafel mit unserem Vornamen vollschreiben, was ich mit einem gewissen Eifer auch machte. Ich gab mir Mühe, doch ich schrieb meinen Namen falsch. Ich glaube, es war eine Lehrerin, die mich dann vor der ganzen Klasse zur Lachnummer des Tages machte. Dieses Bild, dass ich vor der ganzen Klasse stehend ausgelacht wurde, blieb in mir hängen. Jedenfalls blieb in mir zurück: In der Schule musst du sofort alles richtig machen. Als Folge davon meldete ich mich nur noch, wenn ich mir absolut sicher war. Ich stellte praktisch keine Fragen mehr, und es kam oft vor, dass ich nur so tat, als hätte ich die Sache verstanden. Dieses und ähnliche Erlebnisse haben dazu geführt, dass ich Autoritätspersonen immer weniger vertraute.

Vater war dabei

Gehen wir wieder zurück, es gab auch Schönes! Dazu gehörte mein erstes richtiges Fussballspiel mit dem FC Fehraltdorf. Vater kam mit mir und war gut gelaunt. Anscheinend war er mit meiner Leistung nicht unzufrieden. Es herrschte für einen Moment etwas Ähnliches wie Harmonie zwischen uns, obwohl eine gewisse Unsicherheit nicht von mir wich. So entspannte Momente mit meinem Vater kamen schon vor, und seine wirklich dunklen Seiten waren für uns Kinder ja noch lange verborgen. Dazu konnte er gegen aussen sehr gut die Rolle eines charmanten Mannes spielen. Doch hinter der Wohnungstüre spitzte sich die Krise zwischen unseren Eltern von Tag zu Tag zu. Es ging um das liebe Geld, Vater zahlte seine Rechnungen nicht, und mit der Treue nahm er es auch nicht so genau. Und was wir Kinder nicht wussten, war, dass sich unsere Mutter immer wieder die Frage stellte: Wie lange soll ich das noch mitmachen?

Im Juni 1969 zogen wir wieder weiter. Wir kamen nach Opfikon, und ich spielte wieder Fussball beim FC Glattbrugg. Ich erinnere mich noch, wenn auch ungern, an die dortige Schule. Oft hiess es damals, der könnte schon, wenn er nur wollte. Ich habe noch Gespräche mit meiner Mutter in den Ohren, die davon ausgingen, dass ich vielleicht dies oder jenes packen sollte oder könnte, und dann würde alles gut werden. Ähnliche Gespräche hatte ich auch mit meinen Lehrern. Doch es war ihnen wohl nicht möglich, mich in meiner Welt zu erreichen. Mein Lebensgefühl wurde immer trostloser, und ich verstand nicht, was die Menschen in meiner Umgebung von mir wollten. Der Sinn meines Daseins wurde mir immer mehr zu einem Rätsel. Nachts konnte ich oft nicht einschlafen, hatte Magen-brennen, und dazu flüchtete ich mich in Träumereien.

Der Kontakt zu meinem Vater riss nun fast vollständig ab. Er fragte auch nicht danach, was aus mir oder meinen Brüdern werden sollte. Ich hatte erst etwas mehr als zehn Lebensjahre hinter mir, aber nie ein Schuljahr mit den gleichen Schulkollegen angefangen und auch beendet. Im Schnitt komme ich auf keine neun Monate am gleichen Wohnort. Einmal erzählte ich einem Lehrer, was ich so in der Schule erlebt hatte. Bald spürte ich, dass er bei meinen etwas detaillierten Ausführungen Mühe hatte, mir zu glauben. Aber es war so. Sicher, ich war kein Engel, doch was manche Lehrer oder Lehrerinnen sich getrauten, würde heute wohl als Missbrauch bezeichnet werden. Am schlimmsten aber empfand ich die vielen Wohnortwechsel. Ich musste ständig um den schulischen Anschluss und um Freunde kämpfen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich diesen Kampf um Anerkennung und Anschluss aufgeben würde. Hinzu kam, dass unser Zuhause kein Ort war, wo man sich gerne aufhält. Meine Brüder und ich waren möglichst oft draussen und gingen unseren Eltern so gut wie möglich aus dem Weg.

Eigentlich chancenlos

Ich denke, dass ich irgendwann im Alter von elf oder zwölf innerlich aufgab und mich mehr oder weniger treiben liess. Ich hatte schlicht keine Kraft, um mich dem Leben und dessen Herausforderungen zu stellen. Oder vielleicht müsste ich sagen, ich hatte keine Ahnung, um was es eigentlich im Leben geht. Es gab noch schwache Versuche, aus meinem Leben etwas zu machen. Jedes Mal hoffte ich auf Besserung. Doch gute Vorsätze genügen nicht, um ein Leben zu meistern. Jedenfalls: Es kam, wie es kommen musste. Die Scheidung meiner Eltern wurde 1971 vollzogen, und wir zogen weiter in die Stadt Zürich. Wir lebten nun in einem Quartier, in dem sich Zuhälter, Dirnen,Rocker und Hippies zu Hause fühlten. Damit fing ein neuer Lebensabschnitt an in einer mir völlig fremden Welt.

Erste Drogen und...

Schon früh in den Siebzigern begann ich zu rauchen, anfangs mehr aus Neugierde und um dabei zu sein. Mein Vater rauchte viel, und Mutter musste heimlich rauchen, weil Vater es ihr verboten hatte. Zunehmend spielte auch Alkohol eine Rolle. Eigenartigerweise empfand ich eine Abscheu vor mir selber, wenn ich zu viel getrunken hatte. So kam es, dass ich nach dem ersten Vollrausch zwar nicht aufhörte zu trinken, doch zumindest wurde ich vorsichtiger.

Natürlich wurden nun auch Mädchen ein Thema. Ich weiss nicht mehr, wer da alles mitmachte, aber wir hatten uns einen kleinen Partykeller eingerichtet. Natürlich artete das gern etwas aus, wir hatten ja keine Ahnung. Man nahm wohl an, dass entsprechende Zeitschriften zur Aufklärung genügten. Jedenfalls wurde ich noch lange damit hochgenommen, dass ich glaubte, die Babys würden den Bauch über den Bauchnabel der Mutter verlassen. Genau genommen, fühlte ich mich in der Gegenwart des weiblichen Geschlechts total unfrei.

Ungesunde Freiheiten

Meine Brüder und ich lebten nun wie Schlüsselkinder. Mutter musste nach der Scheidung eine Arbeit an-nehmen, und so war sie meistens ausser Haus. Das hiess, dass wir machten, was wir wollten, und Mutter hatte schlicht nicht die Kraft, um sich gegen drei pubertierende Kids durchzusetzen. Als Vater noch bei uns war, bestimmte er inseiner dominanten Art unser Zusammensein, und nun bestimmten wir. Neben den finanziellen Schwierigkeiten bereitete dies Mutter zusätzliche Sorgen. Kaum waren Scheidung und Umzug geschafft, kam noch ein Velounfall dazu. Wegen eines Schlüsselbeinbruchs konnte sie eine Zeit lang nicht arbeiten, und ohne Geldreserven wurde es eng. Es gab auch keine Verwandten, die helfen konnten, da sie entweder schon gestorben waren oder die Beziehungen abgebrochen worden waren. Mutter bekam bei der Scheidung kein Geld, und Vatersollte pro Kind 150 Franken bezahlen. Das Geld kam aber nie an. Letztlich musste das Fürsorgeamt dies übernehmen. Erst in den dann kommenden Monaten realisierte ich den finanziellen Druck, unter dem meine Mutter stand. Um über die Runden zu kommen, nahm sie Kleinkredite zu unsäglichen Zinsen auf. Kurz wurde auch darüber gesprochen, ob ein Heim für uns Kinder nicht besser wäre, doch Mutter lehnte dies ab. Dafür mussten wir einen Beistand vom Sozialamt akzeptieren, den wir allerdings nicht oft zu sehen bekamen.

Schluss mit Schule und eine Lehrstelle

Langsam nahte das Ende meiner obligatorischen Schulzeit. In meinem letzten Schuljahr kam ich in ein sogenanntes Werkjahr, weil man vermutlich sowieso nicht recht wusste, was man mit mir noch anfangen könnte. Zuerst kam ich in die Metallabteilung, dann zu den Bauberufen. Den letzten Teil des Jahres sollte ich in dem Bereich abschliessen, wo ich meine berufliche Perspektive sah. Obwohl ich mit dem Lehrer der Metallabteilung auf Kriegsfuss stand, ging ich wieder in diese Abteilung zurück. Ich wollte einfach mit Metall arbeiten.

Als wir uns um eine Lehrstelle bemühen mussten, machte mich die Aussage eines Berufsberaters sehr wütend. Ohne gross über meine Vorstellung zu sprechen, wurde mir eine Lehre als Kaminfeger empfohlen. Das Positive daran war, dass ich umgehend auf seine Hilfe verzichtete und selber die Initiative ergriff. Ich besorgte mir eine Zeitung und fing an, Lehrstellen zu sondieren. Letztlich bewarb ich mich als Schlosser bei zwei sehr bekannten Schweizer Firmen. Eigentlich war bei mir die Überraschung am grössten, als die Schindler AG mich zu einem Vorstellungsgespräch einlud. Zwei Herren führten das Gespräch, und dazu musste ich einen Test machen. Als ein paar Tage später der Bescheid folgte, dass ich eine vierjährige Ausbildung zum Konstruktions-Schlosser absolvieren durfte, war dies ein riesiger Hoffnungsschimmer. Diese Chance wollte ich nützen, obwohl ich nicht gerade die idealen körperlichen Voraussetzungen für diesen harten Job mitbrachte.

Trotzdem, voller Vorfreude stieg ich 1973 in meine Lehre ein. In der Zwischenzeit hatten wir innerhalb der Stadt die Wohnung gewechselt. Ich versuchte mein Leben etwas umzugestalten, und das hiess, dass ich mich möglichst mit „seriösen Menschen“ abgab. Na ja, was heisst schon seriös? Auch diese Kumpels hatten so manchen Blödsinn im Kopf, aber sie nahmen keine harten Drogen oder konnten sich zumindest zurückhalten. Ich fühlte mich aber in diesen Kreisen nicht wirklich wohl. Wir waren über hundert Lehrlinge, und die sogenannten „Freaks“ sprachen mich von Anfang an mehr an. So kippte ich langsam aber sicher um, und ich freundete mich immer mehr mit diesen Freaks an. Das erste Lehrjahr brachte ich noch einigermassen über die Runden. Doch immer mehr bestimmte Marihuana meinen Tagesablauf. Ich sah darin nichts Gefährliches; die einen tranken Wein, und ich genoss meine Pfeife – wo lag da der Unterschied?

Auch meine Brüder

Auf das zweite Lehrjahr hin zogen wir innerhalb der Stadt Zürich nochmals um. Mutter lebt noch heute in dieser Wohnung. Ohne dass es mir auffiel, gerieten in dieser Zeit auch meine Brüder auf die schiefe Bahn. Heinz wurde immer mehr ein Opfer seiner Schizophrenie. Wie er es schaffte, zu Drogen zu kommen, ist mir immer noch ein Rätsel. Jedenfalls ist seine Geschichte eine Tragödie für sich. Es gab Zeiten, da kommunizierte er nur durch Handzeichen mit uns. Er lebte in seiner ganz eigenen Welt. Alle möglichen Behandlungen und Klinik-aufenthalte halfen nichts. Am Ende hatte er drei tödliche Krankheiten, und Ruedi kam etwa zur gleichen Zeit mit harten Drogen in Berührung wie ich. Wie und mit wem, ist mir nicht bekannt. Ich wollte meine Brüder am Anfang nicht in die Sache hineinziehen, und Ruedi dachte wohl ähnlich. Später waren wir aber oft zusammen unterwegs. Ruedi starb 2005 an einer Überdosis Methadon.

Zum ersten Mal verliebt

Zu Anfang des zweiten Lehrjahrs stand ich immer noch am Beginn meiner unrühmlichen Drogenkarriere. In jenem Winter lernte ich beim Skifahren meine Jungend-liebe kennen. Ich war wirklich verliebt. Das Zusammensein mit Rosa hatte einen motivierenden Effekt auf mein Leben. Für meine Ausbildung war dies natürlich gut. Für etwa ein Jahr war da ein Hoffnungsschimmer an meinem Lebenshorizont. Leider liessen sich ihre Eltern scheiden, und da ich selber ein Scheidungskind war, wurde ich von ihren Eltern in diesen Prozess – quasi als Hilfe – hineingezogen, was mir gar nicht behagte. Rosa, in ihrer Not, die ich nicht so wahrnahm, hängte sich immer mehr an mich. Diese Nähe wiederum ertrug ich nicht, und so kam es zu einer schmerzvollen Trennung. Durch mein Verhalten, das sie ja nicht verstehen konnte, tat ich ihr sehr weh, was ich nun zutiefst bedaure. Das Tragische ist, man ist nicht nur Opfer, man wird auch zum Täter. Mit der Zeit verloren wir uns aus den Augen und sahen uns nicht wieder.

Endlich Freunde

Inzwischen war ich in unserer Freakgruppe integriert, und so banal es auch klingen mag, ich fühlte mich hier angenommen und zu Hause. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich so etwas wie Freunde. Leider nahmen alle Drogen, und einige spritzten schon Heroin. Ich widerstand ursprünglich der Versuchung von harten Drogen und meinte, dass ich diese nicht brauchte. Doch da meine Welt nur stimmte, wenn ich irgendwie zugedröhnt war, wurde ich immer offener für neue Erfahrungen. An einem Openair-Konzert kam es dazu, dass ich das erste Mal Heroin rauchte. Gefühlsmässig war es ein umwerfendes Erlebnis, ein Stück Himmel auf Erden!

Ich versuchte auch andere Sachen aus. Eine Zeit lang suchte ich, wie die meisten Hippies, in den indischen Religionen mein Glück. Ich kam unter anderem auch mit Krischna-Jüngern zusammen, doch etwas an den Begegnungen widerte mich an, und so wendete ich mich davon ab. Ich habe es auch als Medium versucht, doch die ganze Sache machte mir eher Angst. Das Okkulte hatte in unseren Kreisen immer einen gewissen Reiz, und so gab es unweigerlich weitere Berührungspunkte, die nicht ungefährlich waren. Einmal verfluchte mich ein Kollege, dem ich 100 Franken gestohlen hatte, indem er einen Kopf an die Wand malte und in diesen mehrere Nadeln steckte und so dem Dieb, den er nicht kannte, unsägliche Schmerzen wünschte. Ich litt jahrelang an sehr eigenartigen Kopfschmerzen!

Folgenschwere Entscheidung

Weil Heroin zu rauchen einfach zu teuer war, traf auch ich eines Tages eine folgenschwere Entscheidung. Ich wollte mir das Heroin spritzen. Einerseits, weil Haschischrauchen nicht mehr die gewünschte Wirkung zeigte, und anderseits, weil ich keine andere Lebensperspektive mehr hatte. Heute kann ich nicht mehr sagen, warum ich überhaupt Heroin und eine Spritze zu Hause hatte. Ich glaube mich erinnern zu können, dass dieses „Zeugs“ einem der vielen Freaks gehörte, die bei uns ein und aus gingen. Es waren ja nicht nur meine Freunde, die kamen, da waren auch die meiner Brüder.

Obwohl ich allein war, schloss ich mich mit allen nötigen Utensilien im Badezimmer ein. Während ich alles vor-bereitete, um mir meinen ersten „Schuss“ zu setzen, festigte sich in mir ein Gedanke. Die ungefähre Formulierung ist mir noch gegenwärtig: „Walter, es ist total egal, wann du stirbst, aber bis es so weit ist, probierst du alles aus.“ Man weiss, dass Heroin gleichzeitig entspannend und euphorisierend wirkt. Es beseitigt alle unangenehmen Empfindungen wie Angst und Gefühle der Leere. Probleme und Konflikte werden ausgeblendet. Man fühlt sich vollkommen zufrieden. Und so war es auch, Heroin erlöste mich aus „meiner Welt“, die ich nüchtern nicht mehr ertrug.

Was ich damals nicht wahrhaben wollte, ist, dass dieses Gefühl nur kurz anhält und mit der Zeit schwächer wird. Die physischen und psychischen Folgen sind kaum abzuschätzen. Man verliert letztlich alles, was ein würdiges Leben ausmacht, und am Ende erwartet einen meistens ein allzu früher Tod. Soweit mir bekannt ist, haben alle meine damaligen Freunde diese Zeit nicht überstanden. Mein bester Freund hat sich aus lauter Verzweiflung aufgehängt. Ein weiterer Freund ging eines Tages wortlos in sein Zimmer, holte sein Sturmgewehr aus dem Schrank und erschoss sich. Er hat mit niemandem vorher gesprochen, und keiner wusste recht, was in ihm vor-ging. Solche oder ähnliche Beispiele könnte ich noch einige aufzählen, doch lassen wir das. Ich war nun ein „Fixer“, doch noch in dem Stadium, wo ich mir über mögliche Folgen keine Gedanken machte. Erst die folgenden vier Jahre machten mir nur allzu klar deutlich, was es heisst, abhängig zu sein.

Mein Lehrmeister

Mit der Zeit liess sich meine Drogensucht immer weniger verheimlichen, und mein Lehrmeister merkte es auch. Er versuchte alles, damit ich nicht aufgab, auch wenn er mich dafür zu Hause abholen musste. Als die Abschlussprüfungen anstanden, war ich dank ihm auf die praktischen Arbeiten gut vorbereitet. Diese stellten so weit kein Problem dar, abgesehen von meiner minimalistischen Arbeitshaltung. Die theoretischen Prüfungen bestand ich knapp. Ich war sehr gespalten. Einerseits hätte ich gern gut abgeschnitten, und anderseits benahm ich mich so, als wäre mir alles egal. So kam es, dass ich noch am Abend vor einer vierstündigen Zeichnungsprüfung auf LSD war. Trotzdem bestand ich, wenn auch nicht gerade glänzend, meinen Abschluss.

Doch noch auf der Abschlussreise steigerte ich weiter meinen Drogenkonsum. Wir fuhren nach Hamburg und besuchten die Reeperbahn, ein Milieu, das mich mehr interessierte als die anderen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Wir waren auf dieser Abschlussreise sehr euphorisch drauf und dabei umgeben von Zuhältern, Dirnen, Rockern und weiteren skurrilen Menschen. Die meisten von uns gaben hier wohl mehr Geld aus für Alkohol, Frauen und Tätowierungen als geplant. Ich erinnere mich noch, wie ich mit einem Freund zusammen einen Tattoo-Laden aufsuchte. Während mein Kollege sich ein riesiges Bild auf seinen Arm stechen liess, überlegte ich mir die Sache auch. Nur dem Umstand, dass mein Portemonnaie stark unter Geldmangel litt, habe ich es zu verdanken, dass ich keine Tätowierungen trage.

Eine unsaubere Spritze

Zu meiner Überraschung durfte ich bis zu meiner Militärzeit in der Firma als Schlosser arbeiten. Diese Zeit lief nach einem einfachen Muster ab: Wenn ich an der Arbeitsstelle war, lief es nicht so schlecht, doch in meiner Freizeit lief ich den Drogen nach. Wie für alle Süchtigen, stellte auch für mich die Beschaffung der nötigen Mittel die grösste Herausforderung dar. Für eine gewisse Zeit holte ich das nötige Geld von der Bank. Ich kam relativ einfach zu drei oder vier Krediten, da ich ja eine Arbeitsstelle hatte – jedes Mal ein Betrag in der Höhe von zwischen 6000 und 12000 Franken. Schon als ich jeweils mit dem Geld in der Tasche die Bank verliess, wusste ich, dass ich diese Schulden wohl nie zurückzahlen würde.

Ziemlich sicher hatte ich mich noch kurz vor dem Einrückungstermin mit einer unsauberen Spritze angesteckt. Damals war es als Fixer nicht einfach, zu einer Spritze zu kommen, und wenn man eine hatte, benutzte man diese so lange wie möglich. Was ich alles machte, wenn ich endlich das Heroin in der Hand hatte, daran mag ich kaum noch denken. Das benötigte Wasser wurde zur Not schon mal aus der Toilettenschüssel oder aus einer Regenpfütze genommen. Wenn die Nadelspitze zu stumpf war, wurde sie mit einer normalen Feile nachgeschliffen. Und Spritzen wurden ohne grosse Bedenken ausgetauscht!

So ist es kein Wunder, dass ich, ohne es zu wissen, mit einer Leberentzündung in die RS einrückte. Warum und wieso ich zum Militär und dazu noch zu den Radfahrern musste, bleibt wohl ein Rätsel. Meine körperliche Belastbarkeit war jedenfalls alles andere als geeignet für diese Truppengattung.

Fern von aller Realität

Als Süchtiger lebt man in einer „Man macht sich was vor Welt.“ Man nimmt die Realität nicht mehr wahr und überschätzt sich meistens hoffnungslos. So wollte ich die Militärzeit nützen, um den Entzug zu machen, doch das klappte nicht. Die erste Nacht schlief ich noch unter der Wirkung der Drogen recht tief. Als ich am nächsten Morgen von Weitem eine Stimme schwach wahrnahm, hatte ich keine Ahnung, wo ich war. Dem Mann, der mich wecken musste, war dies egal. Er hob mein Bett ein Stück an und liess es fallen. Ich reagierte darauf mit einigen Fluchwörtern, und damit war eine Sache klar: Wir wurden keine Freunde.

Der tägliche Dienst war ungewohnt und anstrengend. Durch die körperliche Betätigung war ich am Abend ziemlich geschafft, doch einmal im Bett, konnte ich trotzdem nicht einschlafen. Lange dachte ich, das sei wegen der Entzugserscheinungen. Doch eines Morgens sprachen mich Kameraden auf meine gelben Augen an, und so musste ich etwas unter-nehmen. Mein erster Gang zum Militärarzt wurde ein Reinfall. Alle sprachen französisch, denn ich war in der Romandie stationiert. Es geschah nichts, und ich musste zurück zu der Truppe. Ich wurde aber immer müder und nutzte jede freie Minute, um mich auszuruhen. Ich erinnere mich noch, dass ich ständig Lust auf Salat hatte. Es kam aber der Tag, an dem ich nicht mehr konnte. Ich sagte dies auch ziemlich deutlich meinem „Freund“, der mich am ersten Tag so unerfreulich geweckt hatte. Dieser holte den Leutnant, und als er mich sah, meinte er: „Mach noch das bevorstehende Exerzieren mit, und anschliessend bringen wir dich ins Spital.“

So kam es auch. Kaum im Spital angekommen, wurde ich sofort in Quarantäne und auf Diät gesetzt. Es wurde eine schwere Gelbsucht diagnostiziert. Damit war meine Militärkarriere zu Ende, und nach ca. zehn Tagen Isolationsaufenthalt in diesem Provinzspital wurde ich nach Zürich verlegt. Doch kaum im Waidspital angekommen, fing ich wieder an, Heroin zu spritzen. Das Personal war darüber nicht gerade begeistert, und ich wurde wohl auch deswegen ziemlich schnell entlassen.

Haarscharf an einer Katastrophe vorbei

Irgendwie schaffte ich es noch, meinen Führerschein zu machen. Sofort kaufte ich, auf Kredit natürlich, mein erstes Auto. Die anderen Kredite benutzte ich um zu dealen. Das hiess, ich fuhr regelmässig nach Italien oder nahm mit Drogenhändlern aus dem Milieu Kontakt auf. Meine Rechnung ging aber nie wirklich auf, denn die meisten Drogen brauchte ich für mich oder sie wurden verschenkt. So wuchsen meine Schulden natürlich an, und ich war gezwungen, nach neuen Möglichkeiten zu suchen, um meinen Heroinbedarf zu decken. Freunde überfielen eine Zeit lang eine Apotheke nach der anderen. Da ich am Rande daran beteiligt war, wurde ich deswegen von der Polizei verhaftet. Einbrechen war nicht meine Sache, so dealte ich wieder. Mit der Polizei stand ich auf Kriegsfuss, spätestens seit dem Moment, als einer mir seine Pistole an die Stirn hielt und mir so drohte. Er wollte mir wohl nur Angst machen, und das war ihm auch gelungen. Ich wurde immer wieder mal verhaftet, verhört und war zum Glück immer nur kurz in Unter-suchungshaft. Es war aber nur noch eine Frage der Zeit, bis daraus mehr würde.

Meine körperliche Verfassung verschlechterte sich zu-nehmend, und ich realisierte nicht, dass meine Leberentzündung ja gar nicht ausgeheilt war. Ans Arbeiten war nicht mehr zu denken, dazu war ich körperlich viel zu schwach. Was ich lange irgendwie kaschieren konnte, ging jetzt nicht mehr. Ich wog nur noch 55 Kilo und nahm weiter ab. So kam der Tag, da ich meinen Hausarzt aufsuchen musste. Beim Arzt angekommen, sollte ich sofort als Notfall ins Spital eingewiesen werden. Da ich durch die Wirkung der Drogen und allerhand Medikamente praktisch keine Schmerzen spürte, hatte ich es nicht so eilig. Ich sagte dem Arzt, dass ich selber ins Spital fahren würde, was natürlich gelogen war. Ich hatte nicht die Absicht, seinen Rat zu befolgen. Träumerisch, wie ich drauf war, wollte ich stattdessen einen Ausflug in die Bergemachen. Ich wollte nur kurz nach Hause fahren, um alles Nötige zu packen. Dort legte ich mich aber sofort hin, und schlief ein.

Als ich wieder aufwachte, es war inzwischen Abend geworden, befand ich mich in einem eigenartigen Zustand. Irgendwie war ich in einer anderen Welt. Alles schien so unwirklich und langsam. Ich teilte meiner Mutter mit, dass ich noch zu einem Freund fahren würde, um ihm geschuldetes Geld zurückzugeben. Dies stimmte, und so nahm ich den Autoschlüssel und fuhr los. Mutter wollte eigentlich etwas sagen, doch sie getraute sich nicht. Ohne weitere Worte stieg ich ins Auto.

Über das meiste, was in den folgenden Stunden passierte, wurde ich später von der Polizei und von der Versicherung informiert. An vieles konnte und kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Ich kam tatsächlich bei meinem Freund an. Auf dem Weg zu ihm habe ich anscheinend fast eine Frau überfahren und diversere Parkschäden verursacht. Mit meinem Freund rauchte ich noch einen Joint und ging wieder, obwohl er meinte: „Bleib doch hier!“ Ich wollte nach Hause, doch schon beim Verlassen des Quartiers hatte ich weitere Hindernisse umgefahren. In der Zwischenzeit suchte die Polizei nach mir.

Zurück in der Stadt fuhr ich an einer Kreuzung dem vor mir fahrenden Autofahrer auf. Ich stieg aus, entschuldigte mich, gab ihm meine Adresse und fuhr einfach weiter. Der arme Fahrer hatte nicht einmal die Gelegenheit, einen Satz zu sprechen. Frustriert über diesen Unfall, den ich wahrnahm, beschloss ich kurzerhand, nicht nach Hause zu fahren. Ich wollte ins Niederdorf (Rotlichtbezirk), um Heroin zu kaufen. Doch ich kam nicht mehr weit. Es war gespenstisch, ich reagierte immer zu spät. Irgendwann sah ich vor mir Bremslichter aufleuchten, also bremste ich, aber eben zu spät, es krachte wieder. Schwach erinnere ich mich, wie Polizisten mich aus dem Auto zerrten und mit Handschellen abführten. Umgeben von einem Lichtermeer und Stimmen verstand ich nichts von dem, was gerade geschah.

Erst am nächsten Morgen, als ich in einem geschlossenen Raum aufwachte, war ich wieder klar bei Sinnen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, und als plötzlich ein Mann in einem weissen Kittel hereinkam, packte ich ihn am Kragen, worauf dieser fluchtartig den Raum verliess. Als die Türe wieder verschlossen wurde, zerbrach etwas in mir! Ich weinte nur noch. Als die Türe wieder aufging, versicherte ich dem Pfleger – ich war in der psychiatrischen Klinik –, dass mich das Eingeschlossen sein wahnsinnig mache. Darauf durfte ich in die offene Station umziehen. Natürlich hatte meine ungewollte „Amokfahrt“ noch ein gerichtliches Nachspiel. Nicht auszudenken, wenn ich jemanden totgefahren hätte.

Eine trügerische Erfahrung

Einige Tage später durfte ich die Klink verlassen, musste aber sofort ins Spital. Obwohl sich meine Leberwerte weiter verschlechterten fuhr ich mit Spritzen fort. Im Spital bekam ich regelmässig Besuch von Freunden. Eines Abends sassen wir in der Kapelle des Spitals zusammen, und ich weiss nicht mehr, was ich alles einnahm, aber mir wurde plötzlich sehr unwohl. So verabschiedete ich mich von meinen Besuchern und ging ohne viel zu sagen in mein Zimmer zurück. Ich hatte ein Zweierzimmer, und mein Bett war am Fenster. Irgendwie kam ich noch ins Bett, und von da an träumte ich.

Ich sah, wie ich durch einen herrlichen hellen Tunnel ging. So etwas Besonderes und Schönes zu beschreiben, dafür fehlen mir einfach die Worte. Ich sah mich diesem grossen, hellen Licht entgegengehen und fühlte weder Trauer noch irgendwelche Schmerzen, alles in mir wollte nur von diesem Licht umgeben sein.

Plötzlich erwachte ich mit sehr starken Kopf-schmerzen, und ich sah undeutlich in das Gesicht der Nachtschwester. Wir waren in einem mir fremden Raum, und mehrere Personen standen um mich herum. Mein Kopf schien vor Schmerzen fast zu zerplatzen, und ich hörte die Nachtschwester sagen: „Sie hatten sehr viel Glück, Herr Bachmann, keine Minute später, und Sie wären nicht mehr am Leben.“ Ich war so was von frustriert und schrie diese nette Schwester an: „Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?“Sie versuchte mich zu beruhigen und kümmerte sich auch weiterhin rührend um mich. Was ich aber gerade erlebt hatte, schien mir durch nichts ersetzbar zu sein.

Doch sie wiederholte sich und sagte mir sehr deutlich, dass ich wirklich sehr, sehr viel Glück gehabt habe und erzählte mir, was passiert war: Ich lag in meinem Bett, mein Gesicht zum Fenster hingewandt. Das Fenster war offen und es gab etwas Durchzug. Meinen Bettnachbar, der mich nicht sehen konnte, störte dies sehr, und er wollte, dass das Fenster geschlossen werden sollte. Da ich nicht auf sein Rufen reagierte, stand er auf, um das Fenster zu schliessen. Dabei sah er, dass mein Gesicht ganz blau war, und so drückte er den Notruf. Das Spitalpersonal brachte mich in ein anderes Zimmer, und so wurde mein Leben ein weiteres Mal gerettet. Seit diesem Erlebnis sah ich dem Tod einerseits gelassen entgegen, anderseits wurde ich dadurch auch verunsichert. Irgendwie ahnte ich, dass das Leben nachher nicht einfach vorbei ist.

Einfach hoffnungslos

Bald darauf wurde ich aus dem Spital entlassen, und der Arzt meinte zu meiner Mutter: „Wenn Ihr Sohn nicht etwas unternimmt, könnte er schon in vier Monaten tot sein.“ Auf Drängen der Mutter sowie der Vormundschaftsbehörde ging ich mit Ruedi (meinem Bruder) für ca. vier Wochen ins Tessin. Wir schafften es sogar, auf Heroin zu verzichten, tranken dafür umso mehr Rotwein. Kaum zurück, machten wir da weiter, wo wir aufgehört hatten. Letztlich bekam ich vom Arzt Methadon. Er meinte, weitere Entzugsprogramme würden bei mir nichts mehr bringen. Ich fand das natürlich gut. So konnte ich wieder einer Arbeit nachgehen. Im Sommer 1979 arbeitete ich auf dem Bau. Wenn ich nach der Arbeit noch meine Dosis Methadon abholte, schaffte ich es gerade noch, nach Hause zu kommen. Ich hatte damals eine kleine eigene Wohnung. Meistens war ich so geschafft, dass ich sofort einschlief.Eines Tages schlief ich mit einer brennenden Zigarette ein, und meine Matratze fing an zu motten. An diesem Tag wollte Mutter meine Wäsche holen. Sie fand mich in einem totalverräucherten Zimmer. Da ich nicht ansprechbar war, rief sie den Notarzt. Erst am nächsten Morgen, wieder in derpsychiatrischen Klinik, kam ich zu mir und musste gezwungenermassen den Methadonentzug machen.

Als ich nach ca. drei Wochen entlassen wurde, hatte sich meine seelische Stimmung nochmals schlagartig verändert. Eine totale Todessehnsucht überkam mich. Es war schon lange so, dass ich mein Leben verfluchte und auch mal meine Geburtstage in dem Sinne feierte, dass ich mir den Tod wünschte. Doch nach diesem Entzug wurde ich noch gleichgültiger. Die Wirkung von Methadon auf die Psyche eines Menschen ist meiner Meinung nach sehr unberechenbar. Mit einer selbstmörderischen Gleichgültigkeit spielte ich mit meinem Leben. Ich konsumierte ohne zu überlegen alles an Drogen, was mir in die Hände fiel. Oft wachte ich irgendwo auf und wusste nicht mehr, was geschehen war. Meistens lief ich ganz apathisch und gereizt umher, ich erkannte mich selber nicht mehr.

Gegen Ende 1979 realisierte meine Familie, dass ich so wohl nicht mehr lange am Leben bleiben würde. Wenn ich nicht zu Hause war, verbrachte ich meine Zeit im Zürcher Niederdorf. Ein befreundeter Zuhälter erzählte mir vom „Best-Hope“. Er hatte aber keine Ahnung, was dieses „Best-Hope“ genau war. Er meinte nur, er habe eine Bekannte, die dieses Haus kenne, und dass ihm und mir ein Aufenthalt dort sicher nicht schaden könnte.

Das muss wohl Anfang Dezember 1979 gewesen sein. Kurz vor Weihnachten war ich total abgebrannt, ich besass absolut nichts mehr. Alles wurde verkauft, was man irgendwie zu Geld machen konnte. Der Führerausweis war weg, dazu kam ein hoher Schuldenberg. Es kam öfters vor, dass es frühmorgens klingelte und ein Mann mit einem Zahlungsbefehl vor der Tür stand. Äusserlich begegnete ich dem allem mit einer scheinbaren Gleichgültigkeit, doch innerlich wusste ich, dass ich so in unserer Gesellschaft keine Zukunft hatte. Der Drogenkonsum hatte schon lange an Wirkung und Reiz verloren. Ich brauchte Heroin nur noch, um den Tag schmerzfrei durchstehen zu können. Spass machte die ganze Sache schon lange nicht mehr, doch ich war irgendwie gefangen und konnte und wollte nicht mehr.

Über den Zuhälter bekam ich die Adresse vom „Best-Hope“, und im Gegensatz zu ihm schrieb ich eine Karte. Tatsächlich bekam ich einige Tage später Post. Doch wegen eines Satzes, der in dieser Einladung stand, bekam ich mit meiner Mutter Streit. Es stand, dass man in dieser Institution nicht rauchen dürfe, was mich dazu bewegte, die Unterlagen wegzuschmeissen. Mutter war sehr enttäuscht. Sie hatte so gehofft, dass sich endlich etwas ändern würde. Ich dagegen vergass diese Einladung.

Nicht schon wieder

Am ersten Weihnachtstag ging es mir gar nicht gut, ich war wieder mal auf Entzug. Mutter hatte einen Christbaum geschmückt und fragte ständig nach, ob wir nicht ein bisschen friedlich feiern könnten. Heinz lief in seiner fortgeschrittenen Schizophrenie in der Wohnung unruhig hin und her. Reden konnte man mit ihm nicht, und ich wartete gereizt und ungeduldig auf Ruedi. Als er endlich kam, gab er mir ein kleines Päckchen mit Heroin, verbunden mit dem Kommentar, das müsse auch für morgen reichen. Ich nahm das kaum wahr und ging ins Badezimmer und nahm alles auf einmal. Als ich wieder rauskam, stand meine Mutter vor mir und fragte mich: „Walter, können wir jetzt zusammen Weihnachten feiern? Hier ist ein Geschenk für dich!“

Diese Worte klingen noch heute nach, doch an diesem Weihnachtsabend waren es die letzten Worte, die ich von Mutter hörte. Wegen einer weiteren Überdosis fiel ich zu Boden. Als ich am nächsten Morgen wieder zu mir kam, waren mir Mutters Worte erschütternd gegenwärtig. Dies war so ein Moment, wo ich zutiefst über mich erschrak. Ich schämtemich, und gleichzeitig machte es mich noch wütender. Mutter erzählte mir, dass mein Gesicht total blau geworden war, und ich realisierte die Angst in ihren Augen. Mutter nahm schon seit langem Schlaftabletten, damit sie die Angst um ihre Söhne in den Griff bekam. Ich war so mit mir selber beschäftigt, dass ich dies nicht merkte.

Diese unendliche Hilf- und Hoffnungslosigkeit in mir zu beschreiben, fällt schwer. Es soll aber keine Entschuldigung sein. Es ist einfach so, als Suchtkranker besteht die Welt nur aus dir und deinem zwanghaften Verlangen, diese Sucht zu befriedigen. Dass du dabei vielen geliebten Menschen wehtust, nimmst du von Zeit zu Zeit zwar wahr, aber letztlich ist die Sucht stärker und zwingt dich dazu, Dinge zu tun, die du eigentlich gar nicht willst. Aus diesem Teufelskreis rauszukommen, ist alles andere als einfach, aber es ist möglich.

Wenn es dich gibt...

Wen wundert es, dass meine Mutter resignierte? Ihre Kinder nahmen alle Drogen. Bei jedem Klingeln des Telefons, jedem Läuten an der Haustüre oder wenn wir länger nicht nach Hause kamen, litt sie an unbeschreiblichen Ängsten. Sie wusste ja nie, was gerade los war. In den Weihnachtstagen 1979 spitzte sich alles irgendwie zu, und es legte sich ein fast greifbarer Schatten der Resignation über unser Zuhause. In dieser Dunkelheit erinnerte ich mich, dass irgendwo in der Wohnung noch Unterlagen vom „Best-Hope“ sein mussten. Ich fand eine Telefonnummer und versuchte jemanden zu erreichen, doch es meldete sich nur der Telefonbeantworter. Später erfuhr ich, dass sie damals ein Skilager hatten. Da sass ich nun in unserer Wohnstube und dachte, jetzt drehst du durch. Pure Verzweiflung umgab mich, und in diesem Zustand war ich zu allem fähig. Selbstmordgedanken quälten mich auf der einen Seite, aber ich wollte mich auch rächen. Gott sei Dank hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine Waffe im Hause.Plötzlich und völlig unerwartet sah ich ein weinendes Gesicht vor mir. Diese Person schien sehr lebendig, der Oberkörper war nackt, die Hände ausgestreckt, und Tränen liefen über seine Wangen. Es kam mir aber nicht in den Sinn, darüber nachzudenken, wer das sein könnte. Ich schrie nur laut: „Wenn es dich gibt, hilf mir!“ Daraufhin verschwand das Bild, und ich ging, als wäre nichts gewesen, in den Tag hinein.In den folgenden Januartagen 1980 ging ich wie gewohnt meine Wege, und das „weinende Gesicht“ hatte ich schon vergessen oder verdrängt. Ich musste – wie üblich – jeden Tag irgendwie an den „Stoff“ kommen.

Meine letzten Tage als Fixer

Am 21. Januar 1980 hielt ich mich wie meistens im ZürcherNiederdorf auf. Im Laufe dieses Tages lernte ich einen jungen Mann kennen, der mich bat, seine Drogen zu verkaufen. Die Art und Weise, wie er sich verhielt, war schon etwas eigen-artig, doch für mich war nur von Bedeutung, dass er Heroin hatte. Auch am darauf folgenden Tag dealte ich für ihn, zumindest so lange, bis er mir mitteilte, dass er den Rest seiner Drogen zurückgeben wolle. So ganz konnte ich das nicht verstehen, doch er bot mir an, ihn zu begleiten. In der Hoffnung, noch irgendwie an seine Drogen zu kommen, ging ich mit. Nach einem nicht enden wollenden Fussmarsch standen wir schliesslich vor einer Wohnung, und ein junger Mann öffnete die Tür. Es dauerte nicht lange, bis dieser anfing, mir Fragen zu stellen: „Was machst du mit deiner Drogensucht?“ Indem ich ihm sagte, dass ich am Freitag, dem 25. Januar 1980, einen Platz in einer Therapiestation in Aussicht habe, log ich ihn an. Es stimmte zwar, dass ich für diesen Tag einen Termin im „Best-Hope“ hatte, aber ich hätte diesen Termin nie und nimmer eingehalten. Er liess nicht locker und fragte: „Was machst du bis Freitag?“ Ich erwiderte, ich sei schon so lange abhängig, dass es auf drei Tage mehr oder weniger nicht ankomme. Darauf hörte ich nur ein: „Warte mal!“

Er verliess den Raum, kam nach einer Weile zurück und meinte aufgestellt, ich könnte schon am nächsten Tag einen Probetag absolvieren. Er habe soeben mit den Verantwortlichen telefoniert, und es sei alles in Ordnung. Wieder versuchte ich mich irgendwie rauszureden und sagte: „Das ist gut, nun muss ich aber nach Hause. Ich brauche eine Dusche und neue Kleider, denn so wie ich jetzt aussehe, kann ich ja nicht gehen.“ Er teilte meine Ansichten nicht und konterte trocken: „Du kannst hier schlafen und morgen bringen wir dich zum Bahnhof.“ Und als ob das nicht genug wäre, liess er verlauten, dass mein neuer Partner, der Dealer, mich begleiten würde.35

Ein Gebet brachte die Wendung

So kam es auch. Nach einer sehr mühsamen Nacht befand ich mich tags darauf schon früh auf dem Weg ins Appenzellerland. Um 10 Uhr morgens sass ich in einer grossen Wohnstube mit mir fremden Menschen zusammen. Ihr Verhalten war befremdend. Mir war ja nicht bewusst, dass ich in einem christlichen Haus gelandet war. Jedenfalls sass ich da mitten drin und hing meinen Gedanken nach. Irgendwie musste ich schnell zu Zigaretten und Drogen kommen. Irgendwann riss mich eine Stimme aus meiner Gedankenwelt: „Walter, dürfen wir dich segnen?“ Ich sagte Ja, aus welchen Gründen auch immer, ich hatte ja keine Ahnung, was gemeint war. Ich sagte sogar Ja, als dieselbe Person mich dazu aufforderte, hinzuknien.

Was diese Menschen gebetet haben, weiss ich nicht. Aber zwei Stunden später realisierte ich, dass mein Verlangen nach Zigaretten und Drogen verschwunden war. Am Nachmittag fragte mich der Leiter (Hanspeter Vogt), was ich zu tun gedenke. Ich erklärte ihm, dass ich keine Lust mehr am Leben hätte. In mir war aber eine leise Hoffnung, in diesem Haus eine Chance zu bekommen, wenn ich nur jetzt bleiben könnte! Ich durfte tatsächlich bleiben und meldete mich noch am selben Abend zu Hause ab. Meine Mutter und meine Brüder dachten wohl, dass ich bei einer indischen Sekte gelandet sei.

Zwei Tage später, am 25. Januar 1980, an meinem eigentlichen Probetagtermin, übergab ich Jesus mein Leben. Ich erinnerte mich nicht mehr an das weinende Gesicht, das ich nur vier Wochen zuvor um Hilfe angeschrieen hatte. Jesus hatte aber meinen Hilfeschrei nicht vergessen, und von nun an nahm mein Leben eineniemals mehr erwartete Wendung.

Völlig anders

Seit einigen Wochen wohnte ich nun im „Best-Hope“ (Therapiezentrum Nieschberg, Herisau). Unter der Leitung von Hanspeter und Anita Vogt lebte ich hier mit gut zwanzig Menschen unterschiedlichster Prägungen zusammen. Was für eine Umstellung, das war gewöhnungsbedürftig! Mein ganzer Tagesablauf wurde auf den Kopf gestellt. Ich lernte, um halb sieben aufzustehen, regelmässig zu essen, zu arbeiten und auch wieder Sport zu betreiben. Während langer Zeit hatte ich ja die Nacht zum Tag gemacht und getan was ich wollte. Es war wirklich eine 180-Grad-Wendung, was natürlich auch sehr viel Konfliktpotenzial beinhaltete.

Seit an meinem Eintrittstag mit mir gebetet wurde, hatte ich wirklich kein Verlangen mehr nach Drogen, auch auf Zigaretten konnte ich gut verzichten. Das innere zwanghafte Verlangen, das dich quasi über Leichen gehen lässt, war verschwunden. Mein Körper und meine Psyche waren zwar noch starken Schwankungen unterlegen. Trotzdem begleitete mich meistens ein Gefühl des Getragenseins, das ich mir letztlich nicht erklären konnte. Auch wenn ich nachts nicht so gut schlief, hatte ich keine Entzugsschmerzen. Sicher, von Zeit zu Zeit dachte ich auch daran, einfach heimlich das Haus zu verlassen, doch ohne es erklären zu können, blieb ich.

Wahrer Glaube entspannt

Im „Best-Hope“ wurde viel über Gott gesprochen, die Bibel gelesen und auch gebetet. In einigen Spannungen oder Konflikten, die es natürlich auch gab, forderte ich Gott heraus, ob er nun wirklich in diesem Haus lebe und mir helfen könne: Er tat es, und ich konnte Jesus nicht mehr leugnen. Doch irgendwie verstand ich das Leben als Christ, trotz allen Erfahrungen, nicht. Von der Art, wie Christen lebten, war ich sehr weit entfernt.Vieles befremdete mich und einiges verstand ich gar nicht. Es war eine andere Szene, deren Regeln und Gepflogenheiten mir fremd waren. Zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich viel wohler, wenn ich mit anderen Therapieteilnehmern (Gleichgesinnten) zusammen sein konnte.

Ich lebte nun schon gut sechs Monate quasi als Christ, doch mein „Glaubensleben“ ging irgendwie nicht auf. Ich verstand das ganze Ding mit dem „Glauben“ nicht wirklich. Ich dachte, du brauchst zwar keine Drogen mehr, aber in deinem Herzen bleibst du wohl ein Freak! Dies änderte sich, als ich eines Tages einen halben Tag Zeit bekam, um mit Gott allein zu sein.

Es war ein schöner, warmer Sommertag, und ich sass betend und lesend unter einem Baum. Neben der Bibel hatte ich ein Buch von Derek Prince („Leben aus Glauben“) bei mir. Während ich am Lesen war, öffnete sich mir eine ganz andere Wahrnehmung. In mir wurde ein Glaube geboren, den ich bis dahin so nicht kannte. Eine unbeschreibliche Geborgenheit und Kraft überflutete mich, die nicht von mir sein konnte. Ich zitiere aus dem Buch: „Wahrer biblischer Glaube entstammt aus dem Herzen und bestimmt unsere Lebensweise. Es ist nicht lediglich ein intellektueller Begriff, der aus dem Denken hervorgeht; er ist eine reale, aktive Kraft, die im Herzen wirkt.“

Selbst solche, die nicht nach mir fragten

So war es, in mir wurde eine übernatürliche Kraft freigesetzt, die mein Leben zutiefst entspannte. Gott zu erleben, war für mich schon vorher etwas Spannendes und Gewaltiges, doch Glauben zu praktizieren, empfand ich als etwas Anstrengendes. Nun wendete sich das Blatt. Seit diesem Tag weiss ich, dass mein Leben Gottes Angelegenheit ist. Während meiner Zeit als Süchtiger hatte ich oft das Gefühl, dass mich jemand oder etwas bestimmte, das ich nicht greifen konnte. Doch dies waren düstere, kalte und einsame Erfahrungen. Jetzt war es total anders, ich wusste mich zutiefst angenommenund geliebt. Im Spätsommer 1980 stand ich zwar erst am Anfang meines Glaubenslebens, das noch viel an Vergebung, Befreiung und Heilung brauchte. Doch ohne dieses Erlebnis wäre ich wohl nicht durch alle Höhen und Tiefen der letzten dreissig Jahre gekommen. Derek Prince sagt: „Glaube ist eine Substanz, etwas also, das schon hier und jetzt vorhanden ist.“

Ich war noch lange nicht über den Berg, und es standen noch einige Versuchungen, Kämpfe und Rückschläge vor mir. Doch in den letzten dreissig Jahren ging ich Wege, die ich von mir aus nie für möglich gehalten hätte. In all den Jahren durfte ich erleben, dass diese „Glaubenssubstanz“ noch heute den Unterschied ausmacht und mich im Alltag befähigt, dranzubleiben. In der Bibel heisst es: „Ich (Gott) liess mich finden von denen, die mich nicht suchten, Ich (Gott) habe mich denen gezeigt, die nicht nach mir fragten“ (Röm 10,20).

So ist es mir ergangen, Jesus hat sich mir gezeigt, als ich dem Tode näher stand als dem Leben. Er half mir, obwohl ich ihn weder suchte noch nach ihm gefragt hatte. Er sah mich damals in meinem Zimmer blutverschmiert liegen und sagte: Du sollst leben!

Nicht vergessen...

Es gibt einige Passagen in der Bibel, die uns auffordern, Gottes Handeln an uns nicht zu vergessen. Ein Psalmwort verdeutlich dies ganz besonders: „Auf, mein Herz, preise den Herrn und vergiss nicht (nie), was er für mich (dich) getan hat“ (Ps 103, 2)! Nach dreissig Jahren ohne Sucht ist vieles normaler Alltag geworden, mit den üblichen Freuden, Sorgen und Leiden. Es ist nur allzu menschlich, dass man dabei einiges leicht vergisst! Man denkt nicht mehr an das, was einmal war und wie viel „Glück“ man eigentlich hatte. Von meiner Vergangenheit als Hippie, Aussteiger und Rebell habe ich mich schon lange verabschiedet. Mein heutiges Leben hat so gut wie nichts mehr damit zu tun. Trotzdem, ich will weder vergessen noch verheimlichen woher ich komme. Und ganz besonders will ich nicht vergessen, wem ich mein heutiges Leben verdanke.

Der Gott der Bibel ist erlebbar! Er griff in mein Leben ein, und nur darum lebe ich. Oft meinen die Leute, mein starker Wille habe mich in die Freiheit geführt. Doch die Wahrheit ist, dass mein Wille nie gereicht hätte. In aller Schwachheit und ohne zu ahnen um was es eigentlich ging, gab ich 1980 mein Leben Jesus. Ich weiss, wenn man nichts anderes mehr hat, ist dies keine grosse Leistung. Es ist ein Unding menschlichen Daseins, dass man für vieles offen ist, aber nicht für Jesus und seinen Weg.

Das vorliegende Zeugnis gebe ich gern weiter, nicht um irgend jemanden blosszustellen, sondern weil es inmitten grösster Verzweiflung Hoffnung gibt. Eine Hoffnung, die alles Tragische in den Schatten stellen kann...

Ich wünschte, dass wir folgendes Bibelwort beherzigen: „Der HERR ist nahe allen, die ihn anrufen, allen, die ihn ernstlich anrufen“ (Ps 145,18).

Gott segne Sie.

"Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht was ER dir Gutes getan" hat!